• Lehrmittel zu Behinderung
Wichtigkeit des Themas

«Behinderte Menschen stellen die Werte unserer Gesellschaft in Frage: Sie brauchen mehr Zuwendung, mehr Zeit für ihre Handlungen; sie entsprechen oft nicht dem Schönheitsideal der Gesellschaft und nicht den herrschenden Leistungsansprüchen. Behinderte Menschen tauchen in den Entwürfen und Bildern unserer Lebensvorstellung nicht auf. Sie verschwinden mehr und mehr aus unserem Alltag.
Dort, wo sie durch ihre Anwesenheit das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft erschweren, werden sie oft ausgegrenzt. Sie passen nicht in die heutige Leistungsspirale, die sich immer schneller dreht und zunehmend mehr Menschen als sogenannt behindert oder in irgendeiner Weise geschädigt aussondert.
Eine Gesellschaft, in der behinderte Menschen keinen Platz haben, verliert ihre Menschlichkeit. Behinderungen und Schädigungen gehören zum Leben. Die Auseinandersetzung mit ihnen vermag Menschen einander näher zu bringen. Diese Nähe wirft Konflikte und Probleme auf, sie lässt aber auch Sinn und Glück erfahren, Freude ausleben und die Lust aufs Leben nicht verlieren.»

Aus: «Das Risiko Leben», 1995

Wer als Lehrkraft die Aufgabe zur gemeinschaftsbildenden Förderung ernst nimmt, kommt nicht umhin, sich über Erziehung und Randgruppen (in diesem Falle Behinderte) Gedanken zu machen. Viele Fachpersonen haben dies - auch in kontroverser Weise - getan und sind zu immer neuen Erkenntnissen vorgestossen, ohne jedoch letztlich eine allgemein gültige Antwort gefunden zu haben. Die Problematik ist komplex, dazu gehören Fragen nach Menschenbildern, nach Erziehungszielen und -inhalten und danach, wie diese mit den Normen der jeweiligen Gesellschaft zusammenhängen oder vereinbar sind.

Es ist auch nötig, sich Überlegungen zur eigenen Person zu machen und die Rolle, die man im Erziehungsverhältnis spielt, zu reflektieren. Was heisst es, in unserer Gesellschaft behindert zu sein? Wie stelle ich mich als Pädagogin oder Pädagoge dazu?

Behinderte Menschen müssen in ihrer Persönlichkeit und Umgebung wahrgenommen und einbezogen werden. Dies setzt Wissen und Kenntnisse über die Identität behinderter Menschen voraus - was nicht immer einfach ist, weil sowohl «Behinderung» wie auch „Identität“ unterschiedlich definiert werden und weil unterschiedliche Behinderungen zu unterschiedlichen Folgen führen. „Den“ Behinderten bzw. „die“ Behinderte oder „die“ Behinderung mit all ihren typischen Einschränkungen gibt es nicht. Es ist immer ein betroffener Mensch in seiner speziellen Welt, mit seinen ganz besonderen Lebensumständen.

Ein Teil der Menschen mit Behinderungen braucht einen Rollstuhl als Fortbewegungsmittel; dies macht sie schon von Weitem zu „Behinderten“, zum Teil einer Randgruppe. Im Unterschied z.B. zu Sinnesbehinderten, die weit mehr Demütigungen erfahren müssen, weil man ihre Behinderung nicht auf Anhieb erkennt und daher aus ihrem möglicherweise eigenartigen Verhalten falsche Schlüsse zieht, macht der Rollstuhl jedoch die Behinderung auf den ersten Blick schon ersichtlich; die Gefahr von Missverständnissen ist kleiner.

Dies ist einer der Gründe, weshalb - soweit möglich - vor allem Mobilitätsbehinderte, d.h. vorwiegend Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, zum Thema dieser Arbeitsblätter gemacht wurden. Die Begegnung mit ihnen löst bei uns Nichtbehinderten kontroverse Gefühle und Reaktionen aus, wir sind es nicht gewohnt, miteinander umzugehen.

Es war vor Weihnachten 1994. Mit einer 3. Sek.-Klasse las ich das faszinierende Lebensbild eines Ouerschnittgelähmten. Die Klasse entschied spontan, diesem Rollstuhlfahrer einen Brief zu schreiben, in dem sie ihre Gedanken kund tun wollte. Einige Wochen darauf wurden die Schülerinnen und Schüler eingeladen, dem Schweizer Paraplegiker Zentrum einen Besuch abzustatten. Die Jugendlichen erbaten sich einige Tage Bedenkzeit um zu entscheiden, ob sie dieser Einladung Folge leisten wollten oder nicht. Ängste, alles falsch zu machen, - dies alles stieg hoch, es wurde diskutiert, und schliesslich stellten sich die Schülerinnen und Schüler dem Unbekannten unter der Voraussetzung, dass sie vorgängig gründlich ins ThemaUnihockey! Wer ist behindert? Wer nicht? Das wird erst im Spiel ersichtlich... «Behinderung» eingeführt werden wollten.

Diese Forderung veranlasste mich als Klassenlehrerin dazu, nach geeigneten Materialien zu suchen. Dies gestaltete sich recht schwierig, da wenig aktuelle Lehrmittel vorhanden waren. So ging ich selber an die Ausarbeitung einzelner Arbeitsblätter.

Die Jugendlichen wurden nach anfänglichen Bedenken von Enthusiasmus gepackt; verschiedene Aktivitäten - auch mit Behinderten zusammen - folgten. Es stellte sich bald heraus, dass es mehrerer Begegnungen mit Körperbehinderten bedurfte, um sich wirklich miteinander auseinander zu setzen und Kontaktprobleme überwinden zu können. Erfahrungen anderer Lehrkräfte mit ähnlichen Projekten haben diese Beobachtung bestätigt.

„Dieses Projekt hat mir meine Angst gegenüber Behinderten genommen. Jetzt sehe ich den Rollstuhl nicht mehr; sondern den Menschen, der darin sitzt. Ich kann mich jetzt vielleicht auch besser mit andern Mitmenschen verständigen, weil ich gelernt habe, darauf zu achten, wie andere Menschen reagieren.“

Andrea, Schülerin

Ein weiterer Grund, die Arbeitsblätter vorwiegend auf Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen zu beschränken, war folgender: Vielen Menschen macht der Umgang mit geistig Behinderten mehr Angst als mit Körperbehinderten; da erstere sich zum Teil schwer auszudrücken vermögen und sich ungehemmter benehmen, sind Jugendliche oftmals überfordert und finden schwer Zugang. Ein Rollstuhl kann im ersten Moment vielleicht abschrecken; vielfach lässt sich jedoch mit seinem oder seiner Fahrerin ganz «normal» kommunizieren – und dies ist der erste Schritt, um Hemmungen abzubauen. Ist diese Schwelle erst einmal überschritten, sind die meisten Jugendlichen fähig und willens, auch anderen Behinderungsarten oder Randgruppen vorbehaltloser zu begegnen und sie zu akzeptieren.

In diesem Sinne sind diese Arbeitsmaterialien als exemplarisch zu betrachten. Die heute – auch bei vieIen Jugendlichen - weit verbreiteten, konsumorientierten Wertvorstellungen können durch die Auseinandersetzung mit dem Thema „Behindertsein“ und im Umgang mit behinderten Menschen überdacht und in )Frage gestellt werden. Die Jugendlichen erfahren und erkennen, dass es Menschen gibt, die mit mehr (und zusätzlichen) Schwierigkeiten zu kämpfen haben als sie selber - und dass es Wege gibt, sie zu meistern.

Wenn die Schule als mitverantwortlich für unsere Gesellschaft betrachtet wird, die gegenüber Menschen mit Behinderungen und anderen Randgruppen offen, verständnisvoll und tolerant sein soll, dann kommt ihr im Rahmen des gemeinschaftsbildenen Unterrichts die Aufgabe zu, auf Diskriminierungen von behinderten Menschen aufmerksam zu machen und ihren Beitrag an die Integration von Menschen mit Behinderungen zu leisten. Gerade in der heutigen Zeit, wo der einzelne Mensch wieder vermehrt seine eigenen Probleme und Bedürfnisse in den Vordergrund stelIt und oft um seine Existenz kämpfen muss, werden Behinderte zunehmend aIs Aussenseiter, Vertreter einer Randgruppe und sogar Konkurrenz wahr genommen.

Behinderte Menschen haben in verschiedenen Bereichen mit Schwierigkeiten zu kämpfen und sind mit Benachteiligungen konfrontiert:

  • Schule: Für behinderte Kinder ist der Besuch von Kindergarten und Regelschule erschwert oder gar unmöglich.

  • Arbeit: Behinderte Menschen sind vom freien Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen.

  • Weiterbildung: Die IV bezahlt behinderungsbedingte Kosten einer Weiter- oder Fortbildung nicht.

  • Öffentlicher Verkehr: Öffentliche Verkehrsmittel stehen einer grossen Anzahl von mobilitätsbehinderten Personen nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügug

  • Kommunikation: Gehörlose Menschen bezahlen für ein Telefongespräch (Schreibtelefon) das Achtfache des Normaltarifs.

  • Bauen: Ein grosser Teil der öffentlichen und privaten Bauten ist für körper- und sinnesbehinderte Menschen nicht oder nur erschwert zugänglich.
    Willkommen?
  • Wohnen: Das private Wohnen ist wegen architektonischer Barrieren und fehlender Finanzierung von Assistenzdiensten erschwert.

  • Kultur/Freizeit: Der Zugang zu Kultur- und Freizeitveranstaltungen ist infolge architektonischer Barrieren, fehlender Kommunikationshilfen und -bereitschaft erschwert oder verwehrt.

  • Sexualität: Es gibt verhältnismässig viele sexuelle Übergriffe an behinderten Menschen. In Wohnheimen sind sexuelle Kontakte eingeschränkt oder verboten. Recht und Raum auf / für Privatsphäre sind nicht gewährleistet.

  • Medizin/Forschung: Genetische Diagnostik und der Druck zur Abtreibung bei positivem Befund stellen das Lebensrecht von Menschen mit Geburtsbehinderungen in Frage.

Einige Länder kennen bereits ein in der Verfassung verankertes Gleichstellungsgesetz für Behinderte. In der Schweiz wurde am 21. Juni 1996 eine entsprechende parlamentarische Initiative grundsätzlich gut geheissen. Sie verlangt die Ergänzung des Gleichheitsartikels 4 der Bundesverfassung durch ein Diskriminierungsverbot sowie ein Gleichstellungsgebot zugunsten der Behinderten. Nachdem die Initiative in eine vorbereitende Kommission, die einen konkreten Text erarbeiten soll, zurückgegangen ist, wird es am Stimmvolk sein, über die Verfassungsänderung abzustimmen.

Dies ist im Mai 2003 der Fall.

Spätestens jetzt müssen wir uns mit dem Thema „Behinderung“ auseinander setzen.

Weitere Details: www.gleicherechte.ch


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